Unter die Haut: Röntgenportraits und Schattenbilder

Olaf Breidbach

Das Röntgenbild dokumentiert ein Durchstrahlen. Photographiert werden die Schatten, die Körper im Durchstrahlungsbild werfen, wobei die Dichte der Körper die Dichte der Schatten bestimmt. Mit dem Röntgenblick können so ein Körper durchmessen, Momente der inneren Struktur seiner Gestalt dokumentiert und zugleich deren räumliche Anordnung in eine zweidimensionale Schichtung zurückgestellt werden.
Die Röntgenportraits, die Tor Seidel auf dem Gelände des Festspielhauses Hellerau fand und in seinen Vergrößerungen neu in Szene setzt, sind zunächst nicht anderes als medizinische Aufnahmen. Das Festspielhaus hatte der Sowjetarmee bis zu ihrem Abzug als Lazarett gedient. Die Bilder wurden in den 1980er Jahren zu diagnostischen Zwecken angefertigt, blieben dort deponiert und wurden Anfang der 90er Jahre zufällig wieder entdeckt: Sie lagerten in einer Holzkiste, die bei Bauarbeiten auffiel.
Die Bilder und damit auch die in ihnen gezeigten Gesichter erschienen als Abfall, als Bestand eines Depots. Ihr Zustand zeichnet damit eine zweifache Geschichte. Es sind zum einen diagnostische Darstellungen, in denen auch klar wird, wie wenig die Mediziner die ihnen anvertrauten Patienten vor höheren Strahlendosen schützten – Ganzkopfaufnahmen, die nicht etwa auf den speziellen, zu diagnostizierenden Bereich eingegrenzt sind. Insoweit wirken diese Photos wie Dokumente aus dem Beginn der Röntgenphotographie, als die Forscher noch sorglos alles und jedes durchstrahlten, um zu erfassen, was es mit diesem neuen, für uns unsichtbaren Licht zu sehen gab. Schon von dort her tragen die hier vorgelegten Aufnahmen etwas Anachronistisches. Sie sind bereits im Moment ihrer Entstehung überaltert und gemahnen uns – sehen wir sie als Dokumente der wissenschaftlichen Sektion des Humanen –, wie wenig anspruchsvoll im Umgang wir mit dem zu sein haben, was uns prinzipiell an Techniken verfügbar sein könnte. Gerade heute ist dies ein immer wichtigeres Thema, wird doch eine hochtechnologische Medizin immer daran gebunden sein, dass die entsprechenden Apparaturen auch für alle finanzierbar und damit breit verfügbar sind.
Zugleich zeigt Tor Seidel in seinen Bearbeitungen Aufnahmen, die – wie die Menschen, die sich in ihnen abgebildet fanden – zumindest für uns vergessen waren. Die Bilder, in denen die Un-Gesichter der Sowjetsoldaten festgehalten wurden, waren dem Zerfall preisgegeben. Darin wird etwas offenbar, das an einem wissenschaftlichen Bild zunächst unerwartet erscheint. Die frühen Photographien des 19. Jahrhunderts – etwa von Daguerre und Fox Talbot – sind für uns, wie auch die schon fast zum Emblem geronnene erste Aufnahme der Hand von Röntgens Frau im Röntgenlicht, Ikonen. Diese Aufnahmen und ihr Umfeld stehen für uns dabei in einer Geschichte. Doch haben sie mit ihrer Einordnung in das 19. Jahrhundert den Stempel einer vormaligen Zeit aufgedrückt bekommen, wohingegen im 20. Jahrhundert dann zumindest in den Aufnahmen und Dokumenten die Wissenschaften in eine neue Zeitlosigkeit übersetzt worden zu sein scheinen. Das moderne wissenschaftliche Bild wirkt für uns zunächst wie eine Offenbarung. Dabei hat es einen fast analytischen Anstrich. Seine Farbgebung, Konturierung und Tiefenschärfe scheinen in einer anderen Dimension zu liegen. So muss es überraschen, dass die hier vorliegenden Aufnahmen, die so vergreist erscheinen, vielleicht 25, vielleicht aber auch nur 20 Jahre alt sind. In ihnen zeigt sich etwas, das in der bereinigten Darstellung der Analyse und Dokumentation in Photo und Bilddatei zunächst verloren zu gehen scheint: Zeit. Hier wird etwas von der Fragilität auch des wissenschaftlichen Bildes greifbar, das uns in der diagnostischen Perspektive und deren Vermittlung durch die Medien leicht außer Blick gerät. Es ist nur vordergründig das bloß Morbide, das sich hier bekundet. Es ist die Patina des Alterns, die uns diese doch sehr jungen Photos in eine eigene Bildwelt entrückt. Dem Zerfall unterworfen, erscheinen sie als Einzelstücke, als Momente, die ein eigenes Leben besitzen.
Damit wird vordergründig auch etwas deutlich, das in den neuen Bildern unserer medialen Präsentationen, wie den Darstellungen mittels Magnetresonanz- oder Computertomographien,  zunächst verdeckt erscheint. Die visuell bereinigten Bildwelten, die uns diese neuen Diagnosegeräte vorführen, scheinen historisch bereinigt. Sie muten in ihrer mathematischen Strenge zeitlos an, rekonstruieren uns denn auch verloren Geglaubtes (wie etwa das Gesicht eines längst verstorbenen Menschen, das mittels genauer Analyse des Schädelskelettes wieder belebt werden kann). Sie machen so im Bild eine Realität fest, die uns in der Zeit nicht mehr zerrinnen zu können scheint.
Das ist in den vorliegenden Aufnahmen anders. Die hier aufgereihten Portraits zeigen, dass die Diagnostik in ihren Möglichkeiten in ihrer Zeit steht und dabei in den gewonnenen Bildern einer Geschichte verhaftet bleibt: Das, was wir heute meinen als objektive Sicherung dessen, was wir sind und was wir darstellen, mit nach Hause nehmen zu können, ist morgen ein Bild einer vergangenen Kultur unserer Selbstdarstellungen. Das zu sehen ist wichtig, um zu verstehen, was unsere Natur ist und was wir sind. Auch die Darstellungen der wissenschaftlichen Apparaturen setzen uns in die Geschichte, in der wir urteilen, aus der wir uns bestimmen, und in der wir dann auch unsere immer nur momentanen Maßstäbe finden.
Was sind dies nun aber für Befunde, die sich hier ins Bild setzen? Zunächst finden wir in diesen Bildern Dokumente von Krankheitsgeschichten. Sie sind Teil medizinischer Dateien, die eine Person unter einem bestimmten Aspekt in einem bestimmten Moment ihres Lebens abbilden: Darstellungen eines Krankendossiers, aber auch Momente einer Geschichte des Umganges mit diesen Patienten und der Geschichte der Personen, die hier nur als Patienten gezeigt werden. Erst Funde wie dieser erlaubten es, die vormalige Funktion des seit 1992 wieder offen zugänglichen Bereichs des Festspielhauses in Hellerau zu rekonstruieren. Es war Teil einer Kaserne, nicht einsehbar und der deutschen Öffentlichkeit in allem verschlossen. Es sind Sowjetsoldaten, die dargestellt sind, Bilder von Personen, die schon in der DDR – zumindest sofern es sich um Mannschaftsdienstgrade handelte – schlicht Unpersonen waren. Im Kontakt massiv eingeschränkt, waren sie für ihr deutsches Umfeld auch in Dresden weitgehend nur Verkörperungen einer Macht, die nach ihrem Abzug um so mehr – trotz der Verdienste, die gerade die Sowjetarmee an dem vergleichsweise nahtlosen Übergang des sozialistischen in ein demokratisches Deutschland hatte – gesichtslos blieb. Der Abschied dieser Armee und ihrer Soldaten geschah so anonym wie ihre Existenz in der DDR. Der Sowjetsoldat, der in den 90er Jahren von der Kaserne in Ostdeutschland oft direkt nach Afghanistan gesandt wurde, blieb für uns – und vielleicht sogar für seinen Staat – gesichtslos.
So ist es in Betrachtung dieser Bilder eben nicht nur wichtig zu wissen, was sie darstellen, sondern wen sie darstellen. Es sind Portraits, die in der Markierung des Umrisses und der Zeichnung der Knochen letztlich ohne Gesicht bleiben. Sie sind damit Dokumente eines Vergessens, in dem die Soldaten auf Spuren reduziert sind. Es ist dieses Paradox, das anrührt – es ist, als habe in diesen Portraits das Vergessen selbst ein Gesicht bekommen.
Derart zu Personen werden die auf ihre Funktion reduzierten Besatzer nun aber nur als Verletzte, als Kranke, als Menschen gezeigt, die in ihren Uniformen alles andere als heil geblieben sind. Wir müssen uns nun darauf einlassen, in diesen Schattenbildern so etwas wie ein Gesicht zu erkennen, und werden so erstmals dazu geführt, in den Schemata der Konturen zwischen Uniformkragen und Uniformmütze dann auch das Gesicht eines Menschen zu entdecken.
Und dann sind diese Portraits selbst verletzt. Sie haben auch als Materialien ihre eigene Geschichte, sie sind entstellt, zerblättert. Sie passen somit in die Ruinen, in denen sie hinterlassen wurden. In den Bildern wird so eingefangen, was sich mit den Personen mit der Zeit ereignete. Es sind Bilder, die in ihren Schattenrissen dann auch etwas aufzeigen, das wir sonst nur nach dem Tode zu Gesicht bekommen. Es sind Aufnahmen, die wirken wie momenti mori, wie Schädelstätten des Erinnerns. Was wir hier finden, gleicht den gestapelten Knochen im Beinhaus neben der Kirche in Hallstatt. Nur sind diese Photos moderner. Es ist nicht der Schädel selbst, es ist ein Bild von ihm, das verfügbar wird. Das, was dann im Großformat wie eine Einritzung, wie eine archaische Zeichnung wirkt, hat doch nur eine virtuelle Präsenz. Es ist ein Schatten, der hier in seinen Knochen verfügbar wird, aber dennoch Schatten bleibt. Genau dieses Flüchtige, dieses Sich-Verflüchtigen der Gesichter dieser Menschen, dieses schon verdrängte, abgerissene Fragment unserer Erinnerung wird in diesen Schemata noch einmal greifbar. Vergesse nie das Gesicht, das Dich ansah! Aus seinen Knochen kannst Du nur ein Erinnern an das verlorene Erinnern rekonstruieren.


Prof.Dr.Olaf Breidbach
in "Mensch! Photographien aus Dresdner Sammlungen" Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden 2006, Jonas-Verlag Marburg, hrsg. von Wolfgang Hesse und Katja Schumann 2006

Olaf Breidbach (* 8. November 1957 in Monheim am Rhein; † 22. Juli 2014 in Jena) war ein deutscher PhilosophBiologe und Wissenschaftshistoriker mit Schwerpunkten in der Geschichte der Hirnforschung, der Theorie der Geschichte der Wissenschaften, der Systemtheorie, der Wissenschaftskultur um 1800, Fragen der Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaftswahrnehmungen sowie der Naturphilosophie.