X-Ray Portrait | Bildwelten des Wissens.

Vera Dünkel und Jochen Hennig

Das Buch Röntgenportrait erschien begleitend zur Ausstellung Portrait of this mortal coil, die im Januar 2005 im Festspielhaus Dresden-Hellerau zu sehen war. Jahrzehntelang lagerten an eben diesem Ort, der der Sowjetarmee nach dem Zweiten Weltkrieg in Teilen als Lazarett gedient hatte, unbesehen und mäßig geschützt in einer Kiste auf dem Dachboden medizinische Röntgenbilder. Als sie 1992 entdeckt wurden, setzte eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Bildern ein. Diese hatten ihren ursprünglichen medizinischen Zweck längst erfüllt und seitdem keinen Betrachter mehr gefunden, wurden nun aber am gleichen Ort als Kunstwerke wieder gezeigt. Begleitend zu dieser Ausstellung, welche neben Dresden auch auf dem Festival Science et Cité in Zürich und im Berliner Medizinhistorischen Museum zu sehen war, ist ein Buch erschienen, welches die Bilder zeigt und in mehreren Aufsätzen ihren Status zu umkreisen sucht.

Für die Ausstellung hat der Künstler Torsten Seidel die durch die lange Lagerung stark beschädigten, durch Bakterien halb zerfressenen und zum Teil aneinanderklebenden Bilder zunächst digitalisiert, bearbeitet und nach dem Druck auf PVC in stark vergrößertem Format auf Keilrahmen gezogen. Ihre Wirkung beziehen sie vor allem durch das Motiv der Köpfe in ungewöhnlichen Haltungen, mit offenen Mündern und klaffenden Augenhöhlen (Abb.1). Vor dem Betrachter entfalten die übermenschlich großen Schädel eine schaurige Wirkung. Sie blicken ihm mit hohlen Augen entgegen, scheinen sich mit schreienden oder qualvoll verzerrten Mündern mitteilen zu wollen und bleiben doch stumm. Unmittelbar werfen die Bilder zahlreiche Fragen nach ihrer Herkunft, nach dem Schicksal der ungewohnt Porträtierten sowie ihrem Status als Patient und als Mensch auf. Durch die Retusche der ursprünglich vorhandenen Namensschildchen hat der Künstler jegliche Information mit Anhaltspunkten zur Identifikation der Personen oder zum weiteren Kontext getilgt und zusammen mit der Übertragung ins plakatgroße Format die Wirkung der Bilder überhöht. Sie verweisen den in fragender Spannung gefangenen Betrachter auf die Eigenart der Sichtbarmachung im Röntgenbild, das den Körper auf die Knochen reduziert, dadurch verfremdet und entpersonalisiert und zugleich individuelle Züge enthält.
Auch der Sammelband hat nicht zum Ziel, die Geschichte dieser Bilder oder die der Porträtierten aufzuarbeiten, sondern erhält die Spannung des Nichtwissens aufrecht und macht sich zur Aufgabe, die Sichtbarkeiten verwandter Bilder aus kultur- und wissenschaftshistorischer Sicht zu hinterfragen. Exemplarisch sei hier auf zwei Beiträge eingegangen:
Monika Dommann beschreibt, wie die kulturelle Rahmung die Lesart von Bildern bestimmt: Während im medizinischen Kontext Röntgenbilder gewöhnlich als Bilder des Lebendigen entschlüsselt werden, um sie für die Krankheitsdiagnostik zu nutzen, bleiben diese – aus ihrem Kontext isoliert – mehreren Lektüren zugänglich. So wirken die ausgestellten Kopfporträts makaber und rufen Assoziationen sowohl mit dem Kontext des Krankenhauses, als auch mit Todessymbolen wie Skelett und Schädel auf. Mit Seidels Übertragung der Bilder in den Kunstkontext wird laut Dommann eine „Vieldeutigkeit (…) aufs Neue inszeniert“, welche dem Medium bereits in seiner Frühzeit eigen gewesen ist, als die späteren Standardisierungen für Bildherstellung und -gebrauch noch nicht existierten: Damals wurden sie als Wahrzeichen technischer Durchleuchtungspotenz einerseits euphorisch begrüßt, andererseits aber auch angstvoll oder skeptisch mit den bekannten Ikonografien des Todes in Verbindung gebracht.
Michael Hagner nimmt die Schädelaufnahmen zum Anlass, die Geschichte des Hirnspiegels, welcher in Anlehnung an Helmholtz’ Augenspiegel als fiktives Instrument des späten 19. Jahrhunderts das Innere des Gehirns offen legen sollte, mit dem Gefühl des Unheimlichen zu verbinden. Mit Bezug auf Sigmund Freud, der die Unheimlichkeit als Ergebnis eines Zusammenkommens von gemeinhin nicht zusammengehörigen Dingen beschreibt, führt er aus, wie mit der Idee des Hirnspiegels die visuellen Erzeugnisse technischer Sichtbarmachungen mit den grundsätzlich unsichtbaren und immateriellen Gedanken aufeinandertreffen. Mit dem Aufkommen der Röntgenbilder sei, so Hagner, die Fantasie einer Spiegelung des Gehirns „in den Bereich des Vorstellbaren gerückt“, wobei heutige bildgebende Verfahren die Vision des Hirnspiegels scheinbar eingeholt haben. Das Hirnbild wird zum „Symbol, das die Leistung und Bedeutung des Symbolisierten, also des Gedankens, übernehmen soll“. Bis heute sind die Ergebnisse der technischen Sichtbarmachung neuronaler Vorgänge der Fantasie des Betrachters überlassen, und bisweilen vertauschen sich Realität und Fantastisches, wenn die Visualisierungen von Hirnaktivitäten realer dargestellt werden als es die Gedanken selbst sind.
Das von Hagner hervorgehobene Zusammenkommen von nicht Zusammengehörigem trifft auch den Kern des Projektes Röntgenportrait, dessen Titel bereits das Einfallstor solcher Zusammenkünfte darstellt: Während die Röntgenstrahlen unter die Haut gehen und ihre Bilder den gewohnten Anblick einer Persönlichkeit unterlaufen, scheinen in den gezeigten „Röntgenporträts“ individuelle, emotionale Gesichtausdrücke sichtbar zu werden, die gewöhnlich nur dem Äußeren, dem Porträt einer Person zugesprochen werden. Durch die Neukontextualisierung der Bilder vermag das Projekt den Betrachter auf die für technische Bilder gleichsam schlichte wie zentrale Frage zurückzuwerfen, was in den Röntgenportraits denn eigentlich zu sehen ist.


Vera Dünkel und Jochen Hennig
Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik.Band 4,2: 
Tor Seidel und Friederike Meyer (Hg.): Röntgenportrait. Bühler und Heckel: Berlin 2005.